Die wundersame Welt der In-Spots: Was macht eine Szenekneipe wirklich zur Szenekneipe? Eine kleine Enzyklopädie - von der Aquarium-Lounge über Retro-Chic und den Sinn des Vernetzungsgedanken bis zur subkulturellen Zweckentfremdung "Jede Szene arbeitet automatisch mit den Instrumenten der Fiktion und Illusion. Eine Szene ist der Produzent eines öffentlichen Glaubens", postuliert der französische Kulturphilosoph Jean Baudrillard. Ein gewisser Gerd Gerken, der in den 80er Jahren von Worpswede bei Bremen aus die Trendforschung mit Themen besetzte, hat es gern etwas komplizierter: Szenen definierte er als "Projektionen, die den Gruppen als Orientierungsmuster dienen und deshalb Geburtsquellen für Moden, Bewusstsein-Trends und Leitbilder sind". Wir alle entdecken früher oder später einen dieser magischen Plätze, an denen 'es" passiert - Locations, in denen die Luft brennt, in denen das Publikum, das Surrounding und die Musik und eigentlich alles so ganz anders ist. Ein Erklärungsversuch von Günter Flohrs/textpop Redaktionsbüro. After-Work-Club. Siehe auch -> Motto-Party. War um die Jahrtausendwende der letzte Schrei, unglaubliche Zulauf-Zahlen wurden etwa aus Hamburg, München und Berlin gemeldet. Nahtlos gleiten besserverdienende Angestellte schon am frühen Abend in ein Nachtleben über, das von vornherein zeitlich limitiert ist. "Man macht sich für diese Ereignisse nicht mehr eigens zurecht", schreibt die "Zeit" hierzu, "das Tages-Ich wird gar nicht erst mühsam in ein Weggeh-Ich transformiert." Ambiente. Ein Weg zum Erfolg. Siehe auch -> Deko, -> Kitsch und -> Zweckentfremdung. Wenn schon die Cocktails und die Küche nichts taugen, wollen wir wenigstens in einer Killer-Optik, die dem letzten Wallpaper-Magazin entsprungen sein könnte, gemeinsam darüber lästern. Aquarien.
Bundeskanzler Kohl wusste ihr kontemplatives Flair einst in seinem Bonner
Büro zu schätzen, seit einigen Jahren entdeckt auch die Szene
eine spontane Affinität zu Zierfischen. Hintergrund: Das eigentlich
zeitlose Phänomen -> Lounging ist wieder stark im Kommen. Etwa
in der Münchner "Skalar Lounge", in der Berliner "808
Bar & Lounge" oder im "Shark Club Berlin". Codes/Codierung. Die -> Szene, welche auch immer, spielt gerne mit dem Unverständnis, das Außenstehende ihr entgegenbringen. Mit der Zeitschrift "Frontpage", dass Mitglieder der Techno-Szene für ihresgleichen konzipiert hatten und bald vom Fanzine zum Kiosk-Blatt mutierte, gab es sogar schon ein Print-Medium, dass nur deshalb eingestellt werden musste, weil kein Mensch mehr es verstehen konnte. Trotzdem lag es auf der Hand, dass die gesamtdeutsche Jugendpresse im Chor ihr Spottlied singt, als der Duden-Verlag vor Kurzem ein "Wörterbuch der Szene-Sprachen" auf den Markt warf. credibil. Neudeutsches Unwort, abgeleitet von "credibility" (= Glaubwürdigkeit). Musikvermarkter und Promoter verhunzen damit gern ihre Pressemitteilungen. Im Zusammenhang mit Szene-Lokalen, in deren Natur es liegt, ein glaubwürdiges Konzept zu haben beziehungsweise eben nicht, und dabei dennoch glaubwürdig zu sein, glücklicherweise noch nicht im Idiom etabliert.
Deko. Nichts ist so langweilig wie der Einrichtungstrend von gestern. Bis er übermorgen wieder ein Revival feiert. Wer sein visuell verwöhntes Publikum bei Laune halten will, macht es wie der Münchner Kay Wörsching in "Kay's Bistro": Alle drei Monate umdekorieren. Gefällt den Theater- und Filmpromis immer. DJ.
Der Discjockey kann vor allem eins: Zaubern. Er macht aus schlechten Parties
gute und umgekehrt. Tritt im Kneipen-Kontext auch gern in der Variante
"Tresen-DJ" auf. Literatur zum Thema: "DJ Culture"
von Ulf Poschardt bei Rogner & Bernhard und "From Skratch - das
DJ-Handbuch" von Ralf Niemczyk und Torsten Schmidt (KiWi Verlag). Flyer. Als aus namenlosen Plattenlegern DJs mit Popstar-Charakter wurden, als dank Photoshop & Co. jeder Weißwurstverkäufer zum Wohnzimmergrafiker aufstieg, wurden die dazugehörigen Werbezettel immer schriller und bunter. Doch es begann auch der Siegeszug der -> SMS. Floor. Früher zerschlug man die Stühle bei Konzerten. Dann tanzte man darauf. Wem das nicht reicht, der hat heute bei gescheiten Parties mindestens zwei Floors zur Auswahl. Damit noch mehr -> DJs auf die -> Flyer passen. Gemütlichkeit kennt keine Grenzen und niemand sagt, dass sich der geschätzte Gast in einen designpreisverdächtigen, aber unbequemen Fauteuil zwängen muss. Beispiele: das fußballübertragungsfreundliche "Libero" in Stuttgart, der rustikale Charme der Uralt-Szenekneipe "Grössenwahn" in Frankfurt am Main und all die netten Cafés am Paul-Linke-Ufer in Berlin-Kreuzberg. House-Musik. Clubmusik im Vier-Vierteltakt ("four-to-the-floor"), die sich in den 90er Jahren als szeneübergreifender, kleinster gemeinsamer Party-Nenner durchsetzen konnte. Zuständig: immer noch der -> DJ. Innenarchitektur. In durchkomponierter Kulisse feiert, allen voran, die Werber-, Model- und Fotografen-Szene immer noch am Liebsten. Etwa im Frankfurter "Schirn Café", das der katalanische Stararchitekt Alfredo Arribas einrichtete. Insekten tauchen immer wieder auf der Karte avantgardistischer In-Spots auf. Wohl ein Trend, bei dem es niemand wirklich eilig hat. Näheres auch unter www.eatbug.com. Kalifornische Küche. Crossover Cuisine comme il faut offeriert, wer nach dem Mega-Trend Asien noch einen draufsetzen will. Beispiele: "Stars" und "Living" in Frankfurt, "Citrus" und "California Roll" in Düsseldorf, "Japgo" in Tübingen. Kitsch
as Kitsch can war eher zu Beginn der 90er Jahre en vogue, ist aber
doch immer wieder gern gesehen. Das "Spitz" in Köln schmückte
sich schon früh mit sakralem Kitsch und einer an Da Vincis "Abendmahl"
gemahnenden Atmosphäre. Im Stuttgarter "Seekneiple" standen
von 1990 bis '94 schon psychedelische Lava-Lampen, bevor sie an jeder
Tankstelle verkauft wurden. Auch ädaquat zu diesem stets auf kleiner
Flamme köchelnden Trend: Das - sic - "Schmalzwald" in Berlin,
wo man momentan gern bei Live-Musik lenzt.
Lounge/Lounging. Probier's mal mit -> Gemütlichkeit, jauchzte im Dschungelbuch Bär Balu. Das britische "Webster's Dictionary" bezeichnet einen "lounge lizard" als "einen geckenhaften Mann, der seine Zeit in den 'lounges' von Bars, Cafés, Hotels etc. vertrödelt, in Begleitung oder auf der Suche nach Frauen, besonders solchen, die gewillt sind, es im gleichzutun." Paradoxerweise wolle eine Lounge, so schreibt die "Zeit", "zugleich Herberge, Bühne und Warteraum sein, anheimelnd und bequem und dabei doch elegant wie eine bessere Hotel-Lobby". Markenartikler sind, zumindest als Sponsoren, immer willkommen. In Ausnahmefällen etablieren diese sogar selbst Szene-Treffs; Beispiel: "Lucky Strikes Originals" in Hamburg oder Berlin. In Zeiten, in denen Produkte und Marken immer austauschbarer werden - Experten sprechen von "Brand Parity" - gelingt es etwa Herstellern von Spirituosen und Tabakfirmen oftmals nur noch, über die Nähe zu einer bestimmten Szene ein eigenständiges Image zu kreieren. Motto-Party. Nach vielfach ausgelutschten Bad Taste-, Single-, Schlager- und Karaoke-Abenden - die sich inhaltlich dann doch kaum voneinander unterschieden - könnte vielleicht bald ein Revival der Pyjama-Parties eingeläutet werden. OCB. Gern genutztes Zigarettenpapier. Wer es mit sich führt, gewinnt schnell neue Freunde. Oldies but Goldies. Siehe -> Motto-Party. Quentin
Tarantino. Gehört nicht direkt hierher, allerdings inspirierte
sein filmisches Meisterwerk "Pulp Fiction" einst viele erfolgreiche
-> Motto-Parties - plötzlich waren Dine-&-Dance-Nächte
und sogar Rock'n'Roll-Contests wieder angesagt. So einfach kann ein ->
Trend entstehen. Retro-Look. Was bereits in den 60er und 70er Jahren als futuristisch galt, wird heute wieder gern in trendsetzenden Läden zitiert. Spacig-poppige Elemente von Design-Ikonen wie Verner Panton, der bspw. den orangefarbenen Swinger aus einem Guss und auch die Kantine im Hamburger "Der Spiegel"-Verlagshaus entwarf, erzielen Liebhaberpreise. Beispiele: Atomic Café in München, Switzerland, Stereo Bar und Travellers Club in Stuttgart. SMS.
Kurznachrichten, die Anbieter und Promoter gezielt auf die Handys der
Kundschaft schicken können und die daher mittlerweile auch gern als
zeitgemäßes Marketing-Instrument genutzt werden. Wird wohl
irgendwann im Lauf dieses Jahrtausends die Flyer-Flut in Plattenläden,
In-Boutiquen und auf dem Zigarettenautomaten des Mitbewerbers obsolet
machen. Szene.
Als es noch klare Feindbilder, Grabenkriege und wohlgeordnete Lifestyle-Typologien
gab, verstand man unter dem Begriff "Szene" vielleicht die Drogen-
oder Autonomen-Szene. Zu Beginn der 90er Jahre entdeckten Marktforscher
und Szene-Restaurants machte die Redaktion von "Der Feinschmecker" erstmals Ende 1994 in einem Beileger zum Thema. Begründung des damaligen Chefredakteurs Wolf Thieme: "Die Gästezahlen sprechen für die Attraktivität dieses neuen Restauranttyps." Auch wenn der "Feinschmecker" sich sonst nur der großen Küche widmet. Trend. Dazu ein schönes Zitat von Dieter Gorny, der erst die Kölner Musikmesse Popkomm. und dann seinen Musiksender Viva äußerst erfolgreich vermarktete: "Ein Trend ist immer nur das Anschieben einer schon anlaufenden Bewußtseinsveränderung. Man kann dem wissenschaftlich nachgehen und Marktstudien machen, aber man kriegt es nicht hin, denn sonst wäre jedes Produkt erfolgreich und es gäbe nur noch Hits." Trivialisierung
der szeneeigenen -> Codes führt zu fortschreitender Differenzierung
innerhalb von elitären Zirkeln. Die -> Szene lässt sich vielleicht
in die Karten schauen, legt dann aber einfach neue Spielregeln fest.
Türpolitik. Außerhalb von München, wo jede poplige Bar mindestens einen Zerberus aufweist, immer noch oft heikel. Ein Lokal wie die Münchner "Milchbar" indes, das ursprünglich eine ordinäre, schlichte Kunstpark-Ost-Kneipe war, machte schnell den Traditionsclubs wie dem "P 1" mehr als ernsthafte Konkurrenz - am Wochenende ging es mitunter zu wie in der U-Bahn von Tokio. "Der erste kostenlose Puff Europas", schrieb "Max" in aller Deutlichkeit. Ohne Bouncer wäre das Chaos jedes Wochenende perfekt. Underground. Seitdem es Musik-, Mode-, Party- und, überhaupt, Pop-Kultur gibt, gedeiht eine Diskussion darüber, was Subkultur ist und was Mainstream, was cool und was nicht und ob die Henne oder das Ei zuerst da war. Den Endverbraucher schert's meist wenig. Siehe auch -> Codes und -> Trivialisierung. Vernetzung. Wer noch glaubt, dass irgendwelche Einzelkämpfer auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten noch völlig autark vor sich hin wursteln, muss nur einmal schauen, welche Vielzahl von Sympathisanten und ggf. auch -> Markenartikler sich allein auf einem -> Flyer für eine Party einklinken. Das Stuttgarter "0711"-Büro, eine Schar von lokalen HipHop-Aktivisten, ist bereits so gut organisiert und global aktiv, dass Vertreter der Stadt absolut erstaunt sind - und um Unterstützung sowieso schon längst nicht mehr angefragt werden. V.I.P.
Wo nur noch Szene ist, sind auch die -> Codes kaum noch zu dechiffrieren.
Alle sind sehr wichtig, manche ganz besonders und trotzdem: Cool bleiben
ist angezeigt. Wer hektisch wird, weil neben ihm ein Mitglied der B-Klassen-Promi-Liga
sein Pils zischt, sollte sich den Star, der auch mal unters Volk will,
lieber in der "Gala" oder bei Johannes B. Kerner anschauen.
Eine szene-kompatible Lokalität braucht daher auch keine V.I.P.-Lounge.
Wobei man sich bei Upperclass-Szene-Italienern wie dem "Charlot"
am Frankfurter Opernplatz nach wie vor an A-Promis wie Pavarotti, Schumi
und Konsorten erfreut. Yogi-Tee. Indische Teezusatzmischung aus Zimt, Ingwer, Nelken, Cardamom und schwarzem Pfeffer. In manchen Szenetreffs eher zu finden als sogenannte Szene-Biere oder ähnlich konzipierte Szene-Drinks, die auch noch als solche vermarktet werden sollen. Zweckentfremdung. Erst sahen wir in US-Kino-Filmen, dass man in großen Lagerhallen schöner wohnen kann, wenn man sie "Loft" nennt. Ab 1988 kamen in solchen Hallen auch in Europa sogenannte "Warehouse-Parties" auf. Illegale Veranstaltungen in leerstehenden Speichern und Lagerhäusern, von denen nur erfuhr, wer im Informationssystem der Subkultur integriert war. Aktuelle Beispiele: Im "Nil" in Sankt Pauli, eines der etabliertesten Hamburger Szene-Lokale, war in den fünfziger Jahren noch ein Schuhgeschäft zu finden. Münchens "Mandarin Lounge" war früher schlechterdings eine Mietwohnung. Im Neu-Ulmer "Wiley Club" waren bis Ende des Kalten Krieges die GIs kaserniert. Erst der Speisung verarmter Mitbürger, dann als öffentlicher Lesesaal diente der Berliner "Schwarzenraben". Richtig krass dann der Werdegang des "Palast der Republik" in Stuttgart: Der war vor einigen Jahren ein noch simples, öffentliches Toilettenhäuschen. Der Fantasie sind keine Regeln gesetzt. |